Bikaner - alleine unter Inder

Die erste Nachtzugfahrt lief erstaunlich gut ab. Am übervollen Bahnhof in Delhi sorgen wir uns noch um Zustände, die in anderen Blogs und Kritiken erzählt wurden, wie zum Beispiel enges Aneinander, perverse Gaffer, Gestank, Hühner und Hitze. Vielleicht waren diejenigen Blogger im falschen Land. Bei Indian Railways läuft's augenscheinlich wie geschmiert. Klar, es ist alles spartanisch, aber irgendwie ist man bei den Temperaturen doch froh um eine abwischbare Kunstlederpritsche in einer Sleeperclass,  anstatt dick gepolsterten Stoffbetten. Die einzige Sorge bereitet uns Delhis Denkzettel an Domi: der hatte bis kurz vor der Abfahrt mit den Auswirkungen der plötzlichen Ernährungsumstellung auf scharf zu kämpfen. 

Dann verläuft die Nacht aber doch angenehm ruhig, nur Natze hegen noch letzte Zweifel, ob man wirklich sicher schlafen könne. Für Indien untypisch kommen wir sogar vor der geplanten Zeit in Bikaner, 450km westlich von Delhi, an.

Verglichen mit Delhi ist das hier eine Ruheoase. Das grobe Stadtbild bleibt aber gleich - unfertige Fassaden, Schmutz wohin man blickt und eine Schar an Tuktuks. Unser Low-Budget Guesthouse ist um Welten hygienischer als das in Delhi, der Besitzer Vinod ist ein unglaublich zuvorkommender und aufrichtiger Mensch. Wir hatten uns damals für Bikaner, am östlichen Rand der Tharwüste, entschieden, weil das eigentlich mehr gehypte Jaisalmer, weiter im Westen, anscheinend sehr touristenüberlaufen sein soll. Tatsächlich waren wir, wie wir später erfahren, mit einem alleinreisenden Spanier die einzigen Fremden in dem 650.000 Seelen „Dorf“ (ja, so macht es den Eindruck, denn der Stadtkern ist winzig, Metro gibt es hier nicht und jeder scheint über alles Bescheid zu wissen). Wie es der Zufall so will, treffen wir noch am gleichen Abend in einem Restaurant in der Station Road auf genau diesen Spanier, Miguel, der quasi die gleiche Backpacking-Route auf dem Plan hat wie wir. Er ist in Begleitung eines jungen Locals, der uns erklärt, dass hier schon alle über uns Bescheid wissen, dass wir aus Deutschland kommen, mit welchem Zug wir angereist sind und in welchem Guesthouse wir nächtigen. Im ersten Moment erscheint uns das sehr befremdlich und wir kommen uns sehr beobachtet vor, auf der anderen Seite gibt es aber auch ein kleines Gefühl der Sicherheit, denn irgendwie scheinen sie so auch auf einen „aufzupassen“.

Auf dem Markt trifft man allerhand kuriose Menschen. Der Hingucker sind zwei Deutsche ohnehin immer, aber dann treffen wir beim obligatorischen Chai, zwischen einer Traube tattoobestaunender Inder auf Vijay 'Vee-jay', der mit seinem zwei Meter langen Schnurrbart (es hat 10 Jahre gedauert) eine Stadtberühmtheit ausmacht und uns in seinen bescheidenen 5 Quadratmetern nebenan promt die unzähligen internationalen Zeitungsartikel über sich zeigt, die er feinsäuberlich auschgeschnitten, laminiert und eingeheftet hat. 

Touriattraktionen besichtigen sparen wir uns hier in Bikaner, denn am zweiten Tag geht es ab in die Wüste auf Kamelen inklusive Übernachtung unter freiem Himmel! 

Am kommenden Morgen fährt uns Vinod persönlich zum Camelman und unserem sehr unterhaltsamen Guide mit unanussprechlichem Namen 40km in die Pampa. Von dort aus gehts weiter mit je einem Kamel für uns und einem Brocken von Kamelbullen, der die beiden Jungs und die gesamte Ausrüstung zieht - die Kamele in Ägypten waren ein feuchter Furz gegen den Burschen hier. Vinod warnt uns bereits vor - da es in der diesjährigen Monsunzeit besonders viel geregnet hat, sogar so viel, dass die ansässigen Bishnoi (Landwirte und ethnische Wächter über die Tiere in der Wüste) bereits gebetet haben, es solle doch bitte aufhören zu regnen, sieht die sonst so karge Landschaft eher aus wie eine üppige grüne Steppe. Auf den ersten zwei Stunden werden wir fleißig mit frischgepflückten Wüstengurken und weißen Wassermelonen versorgt und begegnen vielen Antilopen, frei laufenden Kamelen, natürlich Kühen und einer prachtvollem Bartagame.  Aber auch Schädel, Knochen und ein toter Hund, dessen halbes Skelett sich uns offenbart. Siesta gibts unter dem größten Baum der Gegend, Essen wird über einer kleinen Feuerstelle selbst gekocht und es ist herrlich still - genau das Richtige nach der Action in Delhi! Unser redseliger Guide zeigt uns sein Lieblingskartenspiel 'Battle of Sandwich' und einige Ayurvedatricks gegen Bauchbeschwerden und Kopfweh und erzählt uns Geschichten aus der Wüste.

Die große Mittagshitze ist vorbei und in gemächlichem indischen Tempo gehts weiter, man merkt, dass die zwei jeden einzelnen Bishnoi am Wegesrand beim Namen kennen. Mal wird hier gestoppt und Wasser aus Regensammelbecken aufgefüllt, mal über das Wetter gequatscht oder man ruft sich im Vorbeifahren zu, wo sich gerade der wilde, zornige Stier aufhält, der sooft die Kamele aufschreckt. Unser Ziel ist eine still gelegene Düne, auf der wir den Sonnenuntergang genießen, unser Abendessen kochen und unser Lager aufschlagen. Ganz Cowboy-like macht es sich der Camelman auf dem breiten Holzwagen gemütlich, wir begnügen uns mit einigen, dick gepolsterten Decken auf dem Sandboden. Wir staunen nach einigen Witzen vom namenlosen Guide in den klaren Sternenhimmel, während auch das letzte kleine Geräusch der Wüste verstummt. 

Mit der aufgehenden Sonne schlagen auch wir unsere Augen auf. Der Morgen tut weh. Doch nicht so angenehm wie gedacht. Grinsend werden wir beim bereits köchelnden Chai begrüßt, die erste Nacht sei immer die schlechteste. Zurück gehts dann wesentlich zügiger, wir wollen ja vor der Mittagshitze wieder am Ausgangspunkt sein. 

Diesmal gabelt uns Vinod's in Bollywood nicht unbekannter Sohn auf und bringt uns zum Karni-Mata-Tempel, oder auch Rattentempel. Ja, Rattentempel. Hunderte frei streunender Ratten, die sich an breiten Milch- und Wasserschalen laben und auf keinen Fall totgetrampelt werden dürfen, da Gläubige diese als wiedergeborene Seelen betrachten. Barfuß laufen wir über den stellenweis schmutzig und klebrigen, mit teilweise Rattenkot versehenem Marmorboden. Die Ratten sind nicht vergleichbar mit den Münchner Kanalratten, sie ähneln eher etwas zu groß geratenen Mäusen, weshalb sich unser Ekel in Grenzen hält.

Zurück in der City zeigt sich Bikaner für Natze als besonders anstrengend, kein Mann, der nicht gafft ode giert und die Jugendlichen baggern was das Zeug hält - glücklicherweise auf indisch, dennoch sehr penetrant. Klar, Touristen sieht man hier nicht so viele. Da war Dehli der reinste Urlaub dagegen. Der erste offizielle Kein-Bock-mehr-Moment ist da und Heimweh kommt auf. Komisch, nach einer Woche, dabei haben wir schon viel längere Urlaube hinter uns. Allerdings gibt das Wissen, dass wir ein Jahr lang nicht in vertrauter Umgebung zwischen vertrauten Gesichtern leben werden, der Situation den Rest und es kommt sichtbare Erleichterung in ihr auf, als wir uns am nächsten Tag auf den Weg zum Zug nach Jodhpur, der blauen Stadt, machen.

Natze & Domi