Aurangabad - Berauschend in allen Facetten

Hurra, nach einem Tag Klimaanlagen-Luft und Rumsitzen endlich wieder in Indien!  Endlich wieder guten Chai Masala Tea und wieder original indische Küche, endlich wieder Tuk Tuks und wieder authentische Straßenbilder ohne so viele Touristen! Wir machen uns zu Fuß drei Kilometer auf den Weg in unser Hostel, um das Sitzfleisch wieder zu durchbluten.

Dort angekommen bereuen wir sofort unsere Buchung: die Rezeption wird bestimmt von dem Spruch "Wir mögen keine Diskussionen über unsere Konkurrenz, die weniger berechnet - sie bietet Ihnen auch nur so viel, wie sie verlangt" an der Wand. Davor drei halbstarke Inder, die uns erstmal garnicht wahrnehmen und dann sogar den nahezu doppelten Preis als Tea&Coffee Charge verlangen (in etwa soviel, als würde man in einem deutschen Hotel in einer Nacht 90€ an Getränken versaufen). Um ein Haar wäre Natze nach kurzer Diskussion über die Theke gesprungen, aber die drei Fragezeichen lenken nach lauter Ansage sehr schnell ein und übergeben uns ein großes Zimmer, das vor 50 Jahren sicher einmal glanzvoll war, nun aber nach frischem Käsefuß duftet, voller Flöhe ist und dessen Fenster direkt zur Hauptstraße rausgehen.

Ja, das musste ja mal passieren in Indien, aber dass wir dafür 17€ die Nacht ausgeben würden, hatten wir nicht gedacht.

Am nächsten Tag stehen die Höhlen von Ellora auf dem Plan - buddhistische, hinduistische und jainistische Mönche schlugen hier über Jahrhunterte hinweg riesige Tempel aus dem Fels. Ganz wie im Dokufilm kommt man sich hier vor. Die Wandmalereien und Steinskulpturen sind erstaunlich gut erhalten und man kann durch die große Auswahl von über 30 Höhlen hier einen ganzen Tag verbringen. Hier ein unterirdischer buddhistischer Tempel mit überlebensgroßem Buddha unter einem schwarzen, rippenförmigen Gebilde, dort eine ganze Tempelkleinstadt die gänzlich von oben nach unten aus dem Stein gearbeitet wurde, umgeben von wunderschöner Natur.
Das stark muslimisch geprägte Aurangabad und die noch laufende Nebensaison sorgen leider dafür, dass Natze überdurchschnittlich oft angebaggert und angepfiffen wird und so erhält ihre Indienbegeisterung schnell wieder einen Dämpfer.
Auch das musste mal passieren in Indien, inklusive kleinem Nervenzusammenbruch.

Wir verbringen hier ein paar Stunden und machen uns später wieder auf den Rückweg in die hecktische City und - na, wer hats vermutet? - landen mitten in irgendwelchen neuen Feierlichkeiten. Die Hindus sind schon ein ausgelassenes Völkchen. Die Innenstadt ist unpassierbar, im Menschenmeer wird getrommelt und getanzt und schmucke, selbstgemachte Figuren auf der Straße zur Schau getragen. Auffallend ist, dass keine einzige Frau auf der Straße zu sehen ist und so machen wir uns auf in eine andere Richtung, um Natzes frisch beruhigtes Gemüt nicht weiter zu strapazieren. Wir hätten in die andere Richtung gehen sollen, denn einen Block weiter feiert die restliche Stadtbevölkerung das höchste muslimische Trauerfest im Muharram: Aschura. Hier ist die Stimmung verstörend. Es sind im Gegensatz zum benachbarten Fest viele tiefschwarz gekleidete Frauen auf den Straßen unterwegs, doch die Männer feiern nicht ausgelassen - sie geißeln sich. Der Großteil von ihnen trägt schwarze Shirts mit weißen Säbeln auf dem Rücken, trommelt heftig auf die eigene Brust ein und der kleinere Teil, um den sich die ganze Masse zu sammeln scheint, peitscht sich in gekonnt gleichmäßigen Hieben mit riesigen geknoteten Seilen auf den blutigen Rücken. Hier schlägt die kindlich-dämliche Hindu Anmache aller Anwesenden plötzlich um in spöttisch-agressive Rufe und Pfiffe der Moslems. Wir sind hier denkbar unerwünscht. Schnell wieder auf der Hacke kehrt machen und bloß raus aus diesem Straßengeflecht! Zum Glück bleibt es bis auf ein kurzes Handgemenge von Domi mit einem Inder, der Natze zu Nahe kam, bei rein verbalen Attacken und wir verlassen gereizt die Innenstadt. Gut, dass unser Nachtbus heute Abend nach Mumbai geht - obwohl wir einer noch viel engeren 18 Millionen Metropole natürlich gerade nicht so freundlich gesinnt sind.

Mumbai - Nichts für Klaustrophobiker

Wir verbringen eine erstaunlich gemütliche Nacht in einem indischen Nachtbus in die Megacity und werden von überwältigendem Gestank geweckt - das Flussbecken, in dem Mumbais Kanalisation mündet, haucht uns ein liebevolles "Aufwachen" in die Nase. Bis wir die Vororte durchquert und eine der äußeren Metrostationen erreicht haben, vergeht eine weitere Stunde entlang unzähliger grauer Hochhäuser, abgesperrter Luxuswohnsiedlungen und slumartiger Barrakenansammlungen.


Wir fahren in der überirdischen Metro ins "Lower Manhattan" von Mumbai, das ähnlich wie in  New York auf einer spitzen Landzunge liegt. Wir passieren von Platznot geprägte Straßenbilder und ein Heer an unvollendeten Wolkenkratzern.  Angekommen in unserem Viertel herrscht geschäftiges Treiben: viel zu große LKWs werden in den viel zu engen Gassen laut rufend geladen und es riecht eindeutig nach indischer Großstadt, unser Hostel mittendrin.

28.000 Menschen leben hier durchschnittlich auf einem Quadratkilometer, im bevölkerungsreichsten Viertel sind es sogar 114.000 (kranker Scheiß!?), und die Dunkelziffer liegt noch weit höher. Damit zählt Mumbai zu den engsten Städten der Welt und hängt Berlin mit läppischen 3.890 Menschen pro Quadratkilometer gekonnt ab. Auch das zweitgrößte Slum der Welt befindet sich hier, doch auf eine "Slumtour" mit Guide verzichten wir lieber, wollen wir doch das Leid der Menschen nicht touristisch besichtigen. Vergötterte, millionenschwere Filmstars und die bitterarme, kastenlose Unterschicht leben hier nur zwei Stadtteile voneinander entfernt.

 


In dieser Stadt kannst du umsonst die Feinstaubbelatungsgrenze deiner Lunge, die Dezibeltoleranz deiner Ohren und die Stärke deiner Moral testen, denn es kommt einem vor, als wolle halb Indien auf die heißbegehrte Halbinsel drängen. Kein Zentimeter ist ungenutzt und keine Ressource frei verfügbar. Wir dachten, wir hätten in Delhi alles gesehen, aber im Vergleich hierzu war die Hauptstadt ein schweizer Bankenviertel. Hier riechen ganze Stadtviertel nach verrotteten Fischinnereien aus der Hafengegend, hier begegnet man leprakranken Krüppeln im Straßenmüll (ja, die Krankheit existiert noch in Indien) und mitten im Menschenstrom vor dem Metroeingang schlafen Familien mit Kleinkindern auf nacktem Betonboden. Wieder wird uns bewusst, dass das alles ohne den Hinduismus nicht "funktionieren" könnte, wenn man das so nennen darf. Karma spielt ja in Indien eine maßgebliche Rolle und wird aktiv praktiziert, sodass hier kein Bettler verhungern muss. Noch dazu wird dem Inder Platzangst unumgänglich von Geburt an abtrainiert, sodass hier keinerlei Aggression durch die Enge entsteht - ganz im Gegenteil zeigen sich Tischnachbarn im Restaurant und andere flüchtige Bekannte ganz von der herzlichen und gastfreundlichen Seite.

 

Eine Stadt der Gegensätze könnte man sagen, wir sagen eher ein undurchschaubarer Meltingpot, für dessen Verständnis einige Wochen Aufenthalt nötig wären; aber ganz sicher keine Erholung für bereits gereizte Nerven. Deswegen und des Geldes wegen entscheiden wir uns dazu, am kommenden Tag abzureisen, denn unser nächstes Ziel klingt einfach viel zu verlockend: Der erste Strand unserer Reise, und zwar in Goa, dem durch Portugal christianisierten und "freien" kleinen Flecken unter Palmen im enthaltsamen Indien.

Freudig machen wir uns früh morgens auf zum Zug. Wir sind bis auf ein paar wenige Inder die einzigen in unserem Waggon. Die Wartezeit bis zur Abfahrt verkürzen wir uns mit einem Gespräch über Mumbai - dabei haben wir nicht bemerkt, dass sich Natze schräg gegenüber, außerhalb Domis Blick, ein Jugendlicher Inder hingesetzt hat und sie genau mustert. Erst nach einigen Momenten bemerkt sie ihn, ihr Blick wird immer entsetzter und schwenkt zu Domi rüber mit einem perplexen "Das macht der Typ gerade nicht wirklich!?". Doch, er hat sich völlig schamlos und dreist die Hose geöffnet und befriedigt sich zu Nathalie`s Anblick selbst. Noch nicht ganz im Bild über das Geschehen dreht sich Domi nun zu ihm um und erblickt einen abwartend guckenden Typen mit hochgezogener Unterhose. Eine vorwurfsvolle "verzieh dich gefälligst" Handbewegung und schon macht sich der Idiot in Windeseile aus dem Staub. Erst während der folgenden Fahrt wird uns bewusst, wie krass das ganze eigentlich war. Und wie das in solchen Schreckmomenten ja leider immer ist, wünscht man sich nachher doch immer, man hätte anders reagiert...


Natürlich kann die Stadt Mumbai nichts dafür, denn solche (vielen Touristen bekannte) Vorkommnisse sind tief in der erzkonservativen Kultur der Inder begründet. Jetzt sind wir aber um ein Weiteres glücklicher, in Richtung des touristischeren und aufgeklärteren Goa zu fahren.


Indien, hey. Du machst einen fertig.

Natze & Domi